Ausnahmen vom Bauverbotsbereich – öffentliches Verkehrsinteresse iSd § 42 Abs. 3 EisbG ist keine von Sachverständigen zu klärende Frage
Erkenntnis des VwGH, Ro 2023/03/0036-7 vom 6. November 2024
Ich möchte das neue Jahr mit einem spannenden Erkenntnis aus dem alten Jahr, welches einige klarstellende Aussagen des Verwaltungsgerichtshofes im Zusammenhang mit Ausnahmegenehmigungen im Bauverbotsbereich einer Eisenbahn enthält, einleiten.
Reichen unverbindliche, bloß „wahrscheinliche“ Erweiterungsmaßnahmen für die Versagung einer Ausnahmegenehmigung wegen des entgegenstehenden öffentlichen Verkehrsinteresses aus?
Mit im Wesentlichen dieser Frage musste sich der Verwaltungsgerichtshof auseinandersetzen und ist seine Antwort dem im November letzten Jahres veröffentlichten Erkenntnis zu entnehmen.
Wer im Bereich einer Eisenbahn bauen will, muss sich mit den rechtlich relevanten Grundlagen, dem Eisenbahngesetz aus 1957 i.d.g.F. (in der Folge abgekürzt: „EisbG“) vertraut machen. Nicht überall darf gebaut werden:
§ 42 Abs. 1 EisbG definiert den sog. „Bauverbotsbereich“ und bestimmt, dass die Errichtung bahnfremder Anlagen jeder Art in einer Entfernung bis zu zwölf Meter von der Mitte des äußersten Gleises einer Haupt- oder Nebenbahn oder einer nicht-öffentlichen Eisenbahn verboten ist.
§ 42 Abs. 3 EisbG regelt jedoch eine Ausnahme hievon: Demnach kann die Behörde Ausnahmen von diesem Bauverbot bewilligen, soweit dies mit den öffentlichen Verkehrsinteressen zu vereinbaren ist. Der Gesetzgeber weitete diese Ausnahme sogar weiter aus, indem er auf eine solche Bewilligung verzichtete und für nicht erforderlich erklärte, wenn es über die Errichtung der bahnfremden Anlagen zwischen dem Eisenbahnunternehmen und dem Anrainer zu einer Einigung gekommen ist.
§ 43 Abs. 1 EisbG regelt darüber hinaus den „Gefährdungsbereich“, wonach in der Umgebung von Eisenbahnen die Errichtung von Anlagen oder die Vornahme sonstiger Handlungen verboten sind, durch die der Bestand der Eisenbahn oder ihr Zugehör oder die regelmäßige und sichere Führung des Betriebes der Eisenbahn und des Betriebes von Schienenfahrzeugen auf der Eisenbahn sowie des Verkehrs auf der Eisenbahn, insbesondere die freie Sicht auf Signale oder auf schienengleiche Eisenbahnübergänge, gefährdet wird. Wiederum eine Ausnahme von diesem Verbot ist in § 43 Abs. 3 und 4 EisbG vorgesehen.
Dem zugrundeliegenden Sachverhalt zufolge beantragte die Revisionswerberin die Erteilung einer Ausnahmebewilligung von einem Bauverbotsbereich gemäß § 42 Abs. 3 und § 43 Abs. 3 EisbG. Diesen Antrag wies das Bundesverwaltungsgericht mit der bekämpften Entscheidung ab, sprach jedoch aus, dass die Revision zulässig sei. Zusammengefasst wurde die Ausnahmegenehmigung für ein Bauprojekt (Errichtung einer Wohnhausanlage) innerhalb des Zwölfmeterbereiches mit dem Hinweis auf den „wahrscheinlich“ stattfindenden dreigleisigen Ausbau der Ostbahn im fraglich relevanten Bereich versagt. Es seien im Zeitpunkt der Entscheidung zwar keine verbindlich vereinbarten Ausbaumaßnahmen vorgesehen, mit hoher Wahrscheinlichkeit werde eine solche Maßnahme aber im Rahmen des in Erarbeitung befindlichen „Zielnetzes 2040“ mit entsprechender Priorität gewürdigt, weshalb das Gericht zusammengefasst zum Ergebnis kam, dass der Erteilung der Ausnahmegenehmigung öffentliche Verkehrsinteressen entgegenstünden.
Gegenständlich wurde von der Antragswerberin argumentiert, dass strittig sei, ob die Planungsabsichten der Mitbeteiligten „so konkret“ seien, dass öffentliche Verkehrsinteressen der Erteilung einer Bewilligung entgegenstünden.
Der Verwaltungsgerichtshof erläuterte zunächst den telos der Bestimmung (siehe Rz 33f), wonach der Sinn und Zweck des von Gesetzes wegen bestehenden Bauverbotes und der – auf den Fall ihrer Vereinbarkeit mit öffentlichen Verkehrsinteressen beschränkten – Ausnahmemöglichkeit darin bestünde, den nächstgelegenen Bereich zur Eisenbahn möglichst von einer die Erweiterung der Eisenbahn behindernden Verbauung freizuhalten (mit Verweis auf Catharin/Gürtlich/Walder-Wintersteiner, Eisenbahngesetz4, 2022, § 42 EisbG, Rn. 11).
Es liege vor diesem Hintergrund im öffentlichen Verkehrsinteresse iSd § 42 Abs. 3 EisbG jedenfalls der Bau, der Betrieb, die Erhaltung und Erneuerung sowie der Ausbau der Eisenbahninfrastruktur, wobei dies (Anm.: und darauf kommt es jetzt an) auch die dafür erforderliche Planung – mit dem für eine solche Infrastruktur typischen langjährigen Planungshorizont – umfasst. Der Verwaltungsgerichtshof stellt also zum Einen nicht nur auf einen (bloßen) Planungshorizont ab, sondern gesteht diesem zum Anderen auch einen langjährigen Zeithorizont zu.
Der in der Revision vertretenen Auffassung, dass „Planungsabsichten“ des Eisenbahnunternehmens nur dann für die Versagung einer Ausnahmebewilligung herangezogen werden dürften, wenn diese „so konkret seien, dass sie in eines der gesetzlich vorgesehenen Planungsdokumente, namentlich in den Rahmenplan oder in das Zielnetz, Eingang gefunden“ hätten, folgte der Verwaltungsgerichtshof nicht.
Zu den „Planungsdokumenten“ führte der Verwaltungsgerichtshof § 42 Abs. 7 Bundesbahngesetz, BGBl. Nr. 825/1992, an. Als Grundlage des Zuschusses des Bundes an die ÖBB-Infrastruktur AG (deren Aufgabe wiederum gemäß § 31 Abs. 1 Bundesbahngesetz u.a. die Planung und der Bau einer bedarfsgerechten und sicheren Schieneninfrastruktur (einschließlich Hochleistungsstrecken) ist), ist demnach ein jährlich zu adaptierender sechsjähriger Rahmenplan vorgesehen. Bei der Erstellung dieses Rahmenplanes sei wiederum auf die Festlegungen im sog. Zielnetz, welches zwischen dem für die Angelegenheiten der Eisenbahnen zuständigen Bundesminister und dem Bundesminister für Finanzen abgestimmt wurde, Bedacht zu nehmen. Insoweit gestand der Verwaltungsgerichtshof der Revisionswerberin zu, dass Planungen in Bezug auf einen bestimmten Streckenabschnitt, die in einem der beiden genannten Dokumente enthalten sind, jedenfalls ein öffentliches Verkehrsinteresse iSd § 42 Abs. 3 EisbG zum Ausdruck bringen, sodass eine Ausnahme vom Verbotsbereich nur dann erteilt werden dürfe, wenn dies mit einer solchen Planung vereinbar sei.
Eine Absage erteilte der Verwaltungsgerichtshof gleichzeitig jedoch der Auffassung, wonach ausschließlich jene Planungen in Bezug auf einen bestimmten Streckenabschnitt, die im jeweils anwendbaren Rahmenplan bzw. Zielnetz enthalten seien, ein öffentliches Verkehrsinteresse iSd § 42 Abs. 3 EisbG begründen. Denn eine solche Auslegung scheide schon wegen des Zurückgehens der Regelungen über den Bauverbotsbereich und seiner Ausnahmen auf die Stammfassung des Eisenbahngesetzes 1957 (damals § 38) aus, in der solche Planungsdokumente damals gesetzlich noch nicht einmal vorgesehen waren. Eine Beschränkung des öffentlichen Verkehrsinteresses iSd § 42 Abs. 3 EisbG auf im Rahmenplan bzw. Zielnetz enthaltene Planungen komme laut Verwaltungsgerichtshof aber insbesondere deswegen nicht in Betracht, weil sie die mittel- bis langfristige Perspektive, die einer Schieneninfrastrukturplanung inhärent sei, außer Acht ließe. Und weiter: Bestehen die öffentlichen Verkehrsinteressen iSd § 42 Abs. 3 EisbG in einer erst in Planung befindlichen Erweiterung der Infrastruktur, sodass noch keine konkreten Pläne für ein Bauvorhaben vorliegen, scheidet eine Beurteilung, ob (lediglich) ein bestimmter Teil des Bauverbotsbereichs für eine solche Erweiterung notwendig ist, von vornherein aus.
Und last but not least: Die Beurteilung, ob im Hinblick auf Planungen zur Streckenerweiterung ein öffentliches Verkehrsinteresse iSd § 42 Abs. 3 EisbG vorliegt, ist dem Verwaltungsgerichtshof zufolge eine rechtliche und keine sachverständige Beurteilung, sodass zu dieser Frage auch kein Sachverständigengutachten einzuholen war.
Aus diesem Erkenntnis ist somit ableitbar: Auf in Planungsdokumenten festgehaltene und solcherart „konkrete Pläne“ kommt es für die genehmigungsschädliche Annahme von öffentlichen Verkehrsinteressen iSd § 42 Abs. 3 EisbG nicht zwingend an. Es genügt vielmehr bereits, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit eine solche Maßnahme im Rahmen eines auch erst in Erarbeitung befindlichen Plandokumentes mit entsprechender Priorität gewürdigt wird. Maßgebend im Schieneninfrastrukturbereich sind mittel- bis sogar langfristige Perspektiven, wobei es sich hierbei überdies um eine reine Rechtsfrage handelt, für die keine Beurteilung durch einen Sachverständigen erforderlich ist.